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El Cimarrón (Biographie des geflohenen Sklaven Esteban Montejo)

Hans Magnus Enzensberger
Language: German




I. Die Welt
Früher, in der Zeit der Sklaverei, habe ich oft in den Himmel geschaut. Die Farbe des Himmels gefällt mir sehr. Einmal hat er sich verfärbt wie eine Kohlenglut, und es gab eine entsetzliche Dürre. Ein anderes Mal verfinsterte sich über der ganzen Insel die Sonne mitten am Tag. Es war, als ob der Mond mit der Sonne kämpfte. Die Welt ging rückwärts.
Manche verloren die Sprache. Andere hat der Schlag getroffen. Ich weiß nicht, woher diese Dinge kommen. Die Natur bringt sie hervor. Die Natur ist alles, auch das, was man nicht sehen kann.
Über den Menschen sind die Götter. Ich weiß, dass sie fliegen können. Alles, wozu sie haben, bringen sie fertig durch Zauberei.
Warum haben sie nichts gegen die Sklaverei getan? Das geht mir im Kopf herum wie ein Rad.
Angefangen hat die Sklaverei mit den mohnroten Tüchern. Früher war ganz Afrika mit der alten Mauer umgeben. Die alte Mauer war aus Palmen gemacht, und es wohnten Insekten in ihr, die wie der Teufel stachen und bissen. Deshalb konnten die Weißen nicht in Afrika eindringen. Bis es ihnen einfiel, auf dem Schiff die roten Tücher zu schwenken.
Als die schwarzen Könige das sahen, riefen sie: Lauf! Bring mir das rote Tuch! Und die Schwarzen liefen wie Lämmer auf das Schiff und wurden eingesteckt. Die Schwarzen haben immer eine Vorliebe für die Farbe Rot gehabt. Das war ihr Verderben. So sind sie nach Kuba gekommen.

II. Der Cimarrón
Weil ich ein Cimarrón war, habe ich meine Eltern nie kennengelernt. Nicht einmal gesehen habe ich sie. Das ist nicht traurig, denn es ist die Wahrheit. Meine Paten haben mir gesagt, wann ich geboren bin: Im Jahr 1860, am Tag des heiligen Esteban, wie er im Kalender steht. Deshalb heiße ich Esteban.
Damals haben die Herren die Schwarzen verkauft, als wären es Ferkel. Mich auch. Ich kam auf die Zuckerplantage Flor de Sagua. Mit zehn Jahren lief ich zum ersten Male auf und davon. Sie fingen mich und schlugen mich mit der Kette, dass ich es heute noch spüre. Dann legten sie mir die Handschellen an und schickten mich wieder aufs Feld.
Die Leute schufteten damals wie Sträflinge. Heute will es mir keiner glauben, aber ich habe es selbst erlebt. Wenn ein schwarzes Kind hübsch und zierlich war, nahmen die Herren es ins Haus und stellten wer weiß was mit ihm an.
Den ganzen Tag stand so ein Junge mit dem Fliegenwedel an dem Tisch, denn die Herren fraßen den ganzen Tag. Wenn ihnen eine Fliege ins Essen fiel, fluchten sie und ließen ihn verprügeln.
Ich bin nie im Herrenhaus gewesen.

III. Die Sklaverei
Um halb fünf Uhr früh läutete der Aufseher das Ave Maria. Beim neunten Schlag mussten die Sklaven auf den Beinen sein. Um sechs Uhr schlug die Glocke zum Appell auf dem Platz vor den Baracken, die Frauen links, die Männer rechts. Es war ein weiter, staubiger Platz. Dort gab es keinen einzigen Baum. Keine Palme, keine Zeder, keinen Feigenbaum. Dann wurden wir auf die Zuckerfelder getrieben. Wir arbeiteten, bis die Sonne unterging. Dann läutete es zum Gebet. Um neun Uhr schlug die letzte Glocke und der Aufseher legte das große Schloss vors Tor.
In der Sklaverei habe ich große Schrecken gesehen. Im Kesselhaus der Siederei war der Stock. Der Stock war aus dicken Bohlen gemacht, und er hatte fünf Löcher, für den Kopf, die Hände und die Füße. Wegen einer Bagatelle, wegen einem Dreck wurden die Sklaven in den Stock geschlagen, zwei oder drei Monate lang. Die Lederpeitsche saß den Aufsehern locker, die schwangeren Frauen legten sie auf den Bauch, damit das Kind nicht verloren ging. Ich habe viele meiner Brüder mit roten Schultern gesehen. Die zerrissene Haut rieb man mit nassen Tabakblättern, mit Salz und mit e ein. Das brannte wie Feuer.

IV. Die Flucht
Von einem solchen Leben wollte ich nichts mehr wissen.
Wer da blieb, der war ein Niemand. Ich wollte fliehen.
Immer dachte ich an die Flucht.
Oft konnte ich nicht einschlafen, weil ich an die Flucht dachte. Die meisten Sklaven fürchteten sich vor dem Leben in den Bergen. Eingefangen wirst du doch, sagten sie. Ich dachte mit aber: im Wald ist es besser. Und ich wusste, die Arbeit auf dem Feld, das war wie die Hölle.
Da nahm ich mir den Aufseher vor und ließ den Hund nicht mehr aus den Augen. Ich seh ihn heute noch. Nie nahm er seinen Hut ab. Die Schwarzen fürchteten ihn. Mit einem Schlag konnte er einem das Fell in Fetzen hauen. Eines Tages hielt ich es nicht mehr aus.
Die Wut fraß mich an wie ein Feuer.
Ich pfiff, und er drehte sich um. Da habe ich einen Stein genommen und ihn mitten in seine Fresse geworfen. Ich habe gut getroffen. Das weiß ich, denn er schrie: Haltet ihn fest!
Ich rannte und blieb nicht mehr stehen, bis ich allein war, in den Bergen, im Wald.

XI. Der Aufstand
Dann kam die Zeit, wo alle Welt anfing, vom Aufstand zu reden. Es roch nach Krieg.
Mit den Spaniern, hieß es, ist es aus und vorbei, und ¡Viva Cuba libre! Ich hörte mir alles an und sagte kein Wort.
Die Revolution gefiel mir. Ich hielt große Stücke auf die en, weil sie ihren Hals riskierten und keine Furcht hatten. Aber täusche dich nicht! Der Krieg bringt das Vertrauen unter den Menschen um. Deine Brüder sterben neben dir, und du kannst nichts für sie tun. Wenn alles vorbei ist, kommen die schlauen Ratten aus den Löchern und machen sich einen guten Tag. Und doch kannst du dich nicht verdrücken, wenn das Elend zu groß wird. Du musst dich schlagen, sonst bist du nichts wert.
Die Schwarzen haben nicht lang gefragt, wozu die Revolution da war. Der Krieg musste sein. Niemand wollte mehr die Ketten leiden, das schlechte Fleisch essen und im Morgengrauen auf das Feld gehen.
Es war nicht recht, dass die Weißen alles hatten, und dass es keine Freiheit gab.
Deshalb zogen wir in den Befreiungskrieg. Es ging um unsere Haut. Wer zu Hause blieb, hatte keine Freunde mehr.
Er starb vor Traurigkeit.

XIV. Die Freundlichkeit
Das beste, was es gibt, ist, wenn die Menschen wie Brüder zueinander sind. In der Stadt gibt es das nicht oft. In der Stadt gibt es zuviel Reiche. Die Reichen glauben, sie sind die Herren der Welt, und sie helfen keinem Menschen. Auf dem Lande ist es anders. In unserer Gegend waren wir zu unseren Nachbarn wie Brüder. Jeder half dem andern, wenn es um die Aussaat, eine Fuhre oder ein Begräbnis ging. Eine Palmhütte zum Beispiel war leicht gebaut und gedeckt, in zwei oder drei Tagen. Alle halfen zusammen. Wir wussten, einer allein wird leicht müde und richtet nicht viel aus. Was sich in solchen Sachen zeigt, das ist die Freundlichkeit. Viel ist nicht von ihr übrig geblieben auf der Welt. Die Leute sind mir zu feindlich. Deswegen bin ich gern allein.



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